Machiavelli auf Tauchgang in der Ostsee

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Maren
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Machiavelli auf Tauchgang in der Ostsee

Beitrag von Maren »

Beitrag von Benjamin Kradolfer

Prominent und punktgenau zum 2-Jahres-„Jubiläum“ der Nordstream-Sprengung servierte das Wall Sreet Journal der Welt erneut die bekannte These, dass der ukrainische General Saluschnyj den bereits in die Wege geleiteten Plan entgegen der Bitte Washingtons und Selenskis eigenmächtig durchgezogen habe. Dieses „neue patriotische Märchen“ des Europa-Korrespondenten Bojan Pancevski und dessen breit gestreute Auftritte in anderen Mainstream-Medien kommentierte Wolfgang Michal dieser Tage in der Freitag-Ausgabe 24/39, u.a. mit dem Satz:
„Dass eine Supermacht wie die USA eine von ihr völlig abhängige Staatsführung 'bitten' muss, etwas nicht zu tun, und diese darauf pfeift, ohne dass es Folgen hat, ist so abwegig, dass schon eine Menge Chuzpe dazugehört, eine solche Version ohne Lachanfall in Umlauf zu bringen.“
Auch ich sehe in der Saluschnyj-Story nur eine umständliche Synthese einer staatlichen Täterschaft, wie sie unmittelbar nach dem Anschlag allgemein als unbezweifelbar konstatiert wurde, mit der privaten Taucher-Initiative, wie sie unmittelbar nach Veröffentlichung der allerersten Geschichte überhaupt zur Genese der Katastrophe lanciert wurde, nämlich derjenigen Seymour Hershs, welche es seither, weil sie missliebig ist, zu entkräften gilt – ich gehe davon aus, dass Herr Pancevski inzwischen einfach lange genug an seiner Anti-Hersh-Story hat rumbasteln können, um jetzt mit einem „Endergebnis“ auf die Öffentlichkeit losgelassen zu werden – alles in allem auch für mich lauter eher lach-, weil spürbar krampfhafte Bemühungen, deren Produkte im Feuilleton treffender einzuordnen wären als in politiklastigen latest news-Rubriken.

Aber irgend etwas an Herrn Michals Lachanfall macht mich stutzig. Welcher Art sind denn die Verhältnisse, so frage ich mich, die nicht nur solche gewundenen „Entschuldigungen“ hervorbringen, sondern überhaupt solche Terrorakte, für welche anschliessende Schuldvermutungen verlässlich die Verantwortlichkeiten ausgemacht und ein für alle Mal geklärt haben wollen, während alle diejenigen, die verbindlich die Fakten kennen, weil sie zum erlauchten Kreis der Eingeweihten gehören, in Ruhe gelassen werden und sich ausschweigen und anderen Ungeheuerlichkeiten widmen können. Welcher ungeheuerlichen Art auch sind solche Einweihungen, Verstrickungen und Verantwortlichkeiten in all ihren geschichtlichen, erd-räumlichen und medialen Verwurzelungen und Verzweigungen?

Ja: Die USA sind bekanntlich seit dem Ende des sog. Kalten Krieges die allein übriggebliebene Supermacht. Und ob einem das passt oder nicht: Es liegt nur in der Natur der Sache, wenn eine solche Supermacht, um irgendwo auf der Welt gefährlichen Widerspruch zum Schweigen zu bringen oder allfällige Konkurrenz unter Druck zu setzen, zu schädigen oder auszuschalten, keinerlei Rücksichten kennt und nach Belieben auf niederträchtigste, hinterhältigste, brutalste Art und Weise agiert – zumal ja in diesen 35 Jahren der missionarische Geist und Eifer des american dream auch oft genug mit allem verfügbaren, medienwirksamen Pathos beschworen wurde und überall gebührend gefürchtet und befolgt sein will, nach dem Motto: Always speak softly and carry a big stick. Und tatsächlich: Spätestens seit 1990 – man könnte die Zäsur aber ebenso gut auf ca. 1950 ansetzen, als die USA „nur“ eine von zwei Supermächten waren: Stichwort „Kalter“ Krieg in Korea und Vietnam – haben die Völker und Länder rund um den Erdball mit den Allmachts-Ansprüchen der US-Oligarchie zahllose demütigende, überaus zerstörerische, bluttriefende Erfahrungen gemacht, sei's als Zaungast, sei's als Opfer, sei's als Mittäter: Erpressungen, Manipulationen, Fälschungen, Putsche, Plünderungen, Sabotageakte, Lebensmittel-Blockaden, Terror, Kriege...

Zugegeben: ausschliesslich US-amerikanische Spezialitäten waren derlei Spektakel nie, auch andere Mächtige bedienten sich ihrer. Aber spiegelt es nicht einfach die realen Herrschaftsverhältnisse und -methoden im genannten Zeitraum wider, wenn die Summe derjenigen unter US-amerikanischer Regie die aller andern übersteigt? Eine jede von ihnen wurde zwar, kaum in Szene gesetzt, im Westen sofort wieder verdrängt, egal wie ungeheuerlich sie war – chronisch traumatisierte (Mit-)Täter? –, aber zu leugnen ist nun mal keine einzige, und die Opfer, mögen sie noch so traumatisiert sein, haben sie nicht vergessen. Allerdings wurde – à propos „seit ca. 1950“ – der Kriegsmacht, welche am 6. und 9. August 1945 so überaus spektakulär das Atomkriegs-Zeitalter eingeläutet hat, nur wenig mehr als ein halbes Jahr nachdem sich die Tore von Auschwitz geöffnet und der Menschheit die ersten, schauerlichen Einblicke in den denkwürdigen Holocaust gewährt hatten, an den heurigen Gedenkfeiern in Hiroshima und Nagasaki hoch offiziell nicht mehr gedacht. (Selbstredend auch in den Berichten des westlichen Mainstreams nicht – aber man stelle sich spasseshalber mal vor, es wäre Stalins Rote Armee gewesen...)

In diese lange Reihe der Manifestationen des skrupellosen american dream nun passen sich die Nordstream-Sprengungen nicht nur perfekt ein: Washington hat bekanntlich sogar mehrmals angekündigt, dass es die Pipelines „stoppen“ wolle und werde. Ja, wir erinnern uns: Präsident Biden hat nur kurz, bevor der Anschlag tatsächlich erfolgte, der Weltöffentlichkeit mit unvergleichlicher Chuzpe versichert, man wisse auch ganz genau, auf welche Weise die Sache zu bewerkstelligen sei, neben sich den verlegen grinsenden und maulfaulen Kanzler des Pipeline-Mitbesitzers BRD. (Wie könnte man das Bild vergessen? Wobei: ob es wohl im kollektiven Gedächtnis haften geblieben wäre ohne die Sensation der Sprengungen in derart prompter Folge? was hatte diese auffällige News-Verkittung also zu bedeuten? war es eine Machtdemonstration? Zufall? oder PR-technisches Versehen? Die Antwort mag so oder so ausfallen, sie ändert nichts an den Tatsachen.)

Und mit alledem nicht genug: Alle Welt weiss (und konnte es sich schon bei der Ankündigung ausrechnen), wer der grosse Profiteur von gekappten Gaslieferungen aus Russland nach Europa ist (bzw. sein würde) und wer die grossen Verlierer – den letzteren zugeordnet zu sein, dazu hat spätestens die Unterwürfigkeits-Demonstration des BRD-Kanzlers das gefügige Europa verurteilt.
Bei derart schwergewichtiger historischer Faktenlage scheint mir weniger die These von der bettelnden und vom Vasallen links liegengelassenen Supermacht, wie Herr Michal sie im Freitag zeichnet, lachhaft als vielmehr die nachgerade pathologische Sturheit, mit welcher man sich im washington-treuen Westen von Anfang an geweigert hat und bis heute weigert, ausgerechnet den nächstliegenden, sich geradezu aufdrängenden „üblichen Verdächtigen“ überhaupt und sei's nur in blossen Andeutungen als irgendwie denkbaren, allenfalls potenziell und eventuell doch vielleicht an dem Unfall möglicherweise Mit-Beteiligten in Betracht zu ziehen – dabei winkten die Tatsachen jedem Sehenden kräftig wie mit Zaunpfählen vor der Nase herum, dass die Gas-Röhren ja in der aufs Strengste militärisch und geheimdienstlich überwachten Ostsee explodiert waren, in der noch kurz vorher ausgerechnet unter US-Kommando Nato-Manöver stattgefunden hatten.

Lachhaft auch der Reflex, augenblicklich mit dem Finger in Richtung Russland zu fuchteln und zu rufen, der Kreml habe, nur um dem Westen zu schaden, die eigene Mega-Infrastruktur in die Luft gejagt, und hierfür die schnell feststehende und aller Wahrscheinlichkeit nach zutreffende Einschätzun, dass ein Verbrechen solch gigantischen Ausmasses nur von einem staatlichen Akteur mit entsprechend gigantischen Ressourcen verübt worden sein konnte, als eindeutigen Beweis ins Feld zu führen, nur um bereits kurz darauf Täter-Behauptung wie Beweis umgehend wieder aus dem Diskurs verschwinden zu lassen – wohl weil die offenkundige Absurdität der ersteren sogar ihren Verfechtern einzuleuchten begann, während zweiterer vermutlich für allzu viele allzu einleuchtend und hinweisgebend war.

Lachhaft auch die Hektik, die ausbrach, kaum hatte Seymour Hersh, einer der renommiertesten und bestvernetzten Investigativ-Journalisten der jüngeren Geschichte (vornehmlich eben derjenigen der Supermacht USA), zwar keinen wasserdichten Beweis, aber eine Erzählung geliefert, welche nicht nur die von Anfang an so einleuchtende Notwendigkeit staatlicher Täterschaft ebenso exakt bestätigte wie den „Thank you, USA!“-Tweet des ehemaligen Aussenministers des Ostsee-Anrainers Polen (prompter hätte der seine Dankbarkeit für die aktuellsten very latest news unmöglich hinterher zwitschern können), sondern obendrein auch noch in ihrem Detail-Reichtum als derart glaubhafte und lückenlose Enthüllung in derart kurzer Frist daherkam, dass auch Hershs Versicherung, seine Quelle seien Insider und unmittelbar Beteiligte, glaubwürdig schien; zu diesem Zeitpunkt, da einem Laien wie mir die Sensation des Attentats noch relativ unbeeinflusst von medialen Einflüsterungen im Gemüt lag – bis auf auf das kurze Aufflammen des Anti-Putin-Reflexes hatten sich Politik und Medien ungewöhnlich bedeckt gehalten – schien mehr und einleuchtenderes kaum möglich.
Aber erinnern wir uns zurück an die paar ersten darauf folgenden Tage, in deren Verlauf auf einmal sehr viel mehr möglich wurde:

– wie der US-Präsident gleich am ersten oder zweiten den BRD-Kanzler umgehend erneut ins White House zitierte, diesmal mit der Auflage, ganz ohne Stab anzutraben, und wie folgsam der Oberdeutesche stante pede über den Atlantik an- und bereits am nächsten Tag (oder war's noch derselbe?) wieder nach Berlin zurückflog, ohne dass auch nur die geringste Pressekonferenz oder sonst irgendein Kontakt mit der interessierten Öffentlichkeit zugelassen gewesen wäre – dabei sind sie ansonsten bei derlei Gelegenheiten kaum wegzudenkende Routine; und so ist bis heute kein Hüsterchen darüber bekannt, was die beiden so überaus Dringliches und Hochgeheimes zu besprechen hatten in dem schönen grossen weissen Haus zu Washington, nur eines kann als unzweifelhaft gesichert gelten: ein weiteres Bild mit hündisch ergebener Kanzler-Miene dem grossen, übermächtigen Freund gegenüber, der ihn gerade verbindlich versichert hat, dass er ihm buchstäblich den Boden unter den Füssen vermint hat – ein solches Bild hat es kein zweites mehr gegeben (und dies nun war ohne jedes Wenn und Aber eine eindeutige, unmissverständliche Machtdemonstration);

– und erinnern wir uns, wie nun wiederum nur einen oder zwei Tage später zwei oder drei ausgesuchte Medien-Häuser in USA und BRD, sich auf „gesicherte Ermittlungen staatsanwaltschaftlicher Behörden“ der Ostsee-Anrainer-Staaten (ausgenommen der andere Mit-Besitzer Russland) stützend, umgehend eine Täter-These in die Welt setzten, in welcher der eben noch gigantische Anschlag auf einmal so klein war, dass er nicht mehr nur von staatlicher Geheimmacht und -logistik, sondern von einer blossen Handvoll Privattaucher und von einer kleinen Privat-Yacht aus hatte verübt werden können – eine Geschichte, die für unsereinen so wenig wasserdicht beweis- und widerlegbar ist wie die Hershs, aber im Unterschied zu ihr nur so strotzt von Unwahrscheinlichkeiten, für die eine „Tatort“-Folge von der TV-Kritik in Grund und Boden verrissen würde;

– (für überhaupt nicht lachhaft hingegen und für viel wahrscheinlicher halte ich z.B. die These des Schweizer Physikers Hans Benjamin Braun: Sie will keine Täter dingfest machen, sondern beruht auf dem ausführlichen Studium vieler staatlich gesammelter Ostsee-und Anrainer-Dateisätze, die Auskunft geben über die unmittelbaren physikalischen Auswirkungen, welche die Explosionen in der Gesamtregion zeitigten, und kommt zu dem Schluss, dass es sich um eine Sprengung mit thermonuklearem Sprengsatz gehandelt haben müsse, zu deutsch: mit einer Wasserstoffbombe; vor ca. einem Jahr zum ersten „Jubiläum“ veröffentlicht, wurde sie vom Mainstream selbstredend nie aufgegriffen – zu heftige Erschütterungen? dabei käme für derlei ja sogar der übliche Bösewicht Russland wieder in Frage.

– und lachhaft ist leider auch jede neue, fein säuberlich auf totale US-Abstinenz gedrillte Variante, wie sie der lächerlichen ersten Anti-Hersh-These bis heute stetig nachgeworfen werden, eine jede, auch wenn sie inzwischen ausgefeilter daherkommt, eher fabel- als glaubhaft und dem immer gleichen, leicht zu durchschauenden Ziel verpflichtet: vom Offensichtlichen abzulenken.

Noch einiges andere, in die gleiche Richtung deutende liesse sich aufzählen. Doch so lachhaft die ganze Thesen-Flut auch anmutet: mir bleibt das Gelächter im Hals stecken, wenn ich mir nach all den Erfahrungen, die mit der Supermacht USA weltweit gemacht wurden, die Verwerfungen vorzustellen versuche, auf die wir uns nun, da bekanntlich der einmalige Supermacht-Status längst nicht mehr so einzigartig und übermächtig ist, wie das Wort Supermacht suggeriert, noch gefasst zu machen haben. Riesen, wenn sie angeschlagen sind, werden in der Regel – und auch das liegt, so fürchte ich, nur in der Natur der Sache – nicht zahmer, sondern im Gegenteil eher noch wütender. (Ausnahme, die die Regel bestätigt: die Supermacht Sowjetunion unter Generalsekretär Gorbatschow.) Und während US-Politik für grosse Teile der Welt bestenfalls noch den Unterhaltungswert eines Kasperle-Theaters hat, macht mir die nach wie vor übermächtige US-Army nur um so mehr angst und bange – oder sagen wir genauer: der berühmt-berüchtigte militärisch-industrielle Komplex, von dem öffentlich schon lange kaum noch die Rede ist, geschweige dass ein US-Präsident noch vor ihm warnen würde, in welchen aber de facto die in den Medien ach so prominent und präsidial präsente Nato vollumfänglich integriert ist: als ein Haufen blosser Befehlsempfänger. Es bleibt also abzuwarten, wie Washington ab dem nächsten Jahr agiert, wenn es vom momentan noch heisslaufenden Wahlkampf-Modus, in dem die Kampfhähne fürchten müssen bzw. hoffen dürfen, die schon laufenden Kriege könnten sich stimmen-rechnerisch negativ bzw. positiv auswirken, und deswegen allesamt lautstark den Frieden preisen, wieder für drei Jahre glücklich in den ungehemmten american-dream-Vollzugs-Modus umschaltet.

Und wenn ich noch dazu ausgerechnet im Principe des Niccoló Machiavelli blättere, dieses so überaus scharfsinnigen Phänomenologen des Machtge-&-missbrauch im kriegerisch bewegten Italien des frühen 16. Jhds., und (im dritten Kapitel) über einen Absatz stolpere mit einem „Grundsatz, der niemals oder selten trügt: Wer einen anderen mächtig macht, kommt dadurch um. Denn zu dieser Macht verhilft er ihm durch Schlauheit oder durch Gewalt, und beide sind dem, der mächtig geworden ist, verdächtig“, dann will mir Herrn Michals Heiterkeit erst recht trügerisch scheinen. Beleuchtet Machiavellis Grundsatz nicht im Grunde genau den einzigen Aspekt an der lachhaften Saluschnyj-These, der allenfalls tatsächlich für sie sprechen könnte und insofern ein erhellendes Licht auf die realen Verhältnisse wirft? Wird die Supermacht USA nicht womöglich so supermächtig umkommen, sei's durch sich selbst, sei's durch andere, dass danach kaum noch etwas anderes am Leben bleibt?

Bekanntlich macht Washington ja seit längerem andere mächtiger und mächtiger – teils willentlich, teils ganz entgegen den eigenen Absichten (hübsches Beispiel für letzteres: die Taliban) –, und dies auch oder gerade in dem Bereich, in dem die Amis bekanntlich sowieso einsame Weltspitze sind, und der für sie zu einem unverzichtbaren Grundpfeiler ihrer Politik und von überhaupt allem geworden ist: PR! Diese scheint inzwischen ein solches Ausmass erreicht zu haben (analog zur Entwicklung des militärisch-industriellen Komplexes), dass sie ihren mächtigen Urhebern in vielem – und Entscheidendem – den Sinn für die offenkundigsten Realitäten geraubt hat und diese zum Opfer der eigenen Propaganda wurden.

Nun hat sich seit Februar 2022 zumindest bezüglich des ukrainischen Polit-Personals das demütigende Medienbild des unterwürfigen Vasallen in sein Gegenteil verkehrt, indem im Stile Washingtons alles Ukrainische dermassen zu überragendem Superstartum aufgeplustert worden ist, dass Selenksi, Saluschnyj e.a. sich womöglich längst mit ihrem eigenen Medienbild verwechseln, d.h. sich selbst für unbesieg-&-fehlbar genug halten, um auf des Herrn und Meisters Willen pfeifen zu können, wo der gerade anderweitig absorbiert ist. (Ich halte es beispielsweise für nicht ausgeschlossen, dass die selbstmörderische Kursk-Offensive auf solchem Mist gewaschen ist.) Ein Bub mag in Wahrheit von seinem übermächtigen Vater vollkommen abhängig sein – aber wenn der ihm dauernd vor aller Augen einredet, er sei der Grösste von allen und vollkommen souverän, und ihn noch dazu zum Protzen mit allerhand kriegerischem Spielzeug ausstattet, wird es der Kleine dem Vater und der Welt über kurz oder lang auch beweisen wollen und mit seinem Spielzeug irgendeine unwiderrufliche Heldentat vollbringen; und der starke Papa mag sich noch so allmächtig wähnen – auf Dauer verhindern kann er solche Eigenmächtigkeiten und ihre ausufernden Folgen nicht. Dieser familiär-nachbarschaftlichen Konstellation analog sehe ich Washingtons Verhältnis zu Kiew, auf geopolitische Dimensionen vergrössert: Eine immer schwerer kontrollierbare Lage noch unkontrollierbarer und damit dem bereits angeschlagenen Zieh-Papa das Leben immer schwerer und ihn gerade damit noch fehlbarer und unberechenbarer machen – dies zumindest steht allemal in der Macht derart zum Hochmut angestachelter Bälger. Und dann noch die möglichen Reaktionen allfälliger Superpapa-Konkurrenten, die gegenüber der Supermacht ja auch nicht mehr gerade ohnmächtig sind, welche die Situation weiter eskalieren und für alle Beteiligten noch unkontrollierbarer machen...

Und last but not least: Gibt's da nicht auch noch das andere Lieblings-Ziehkind Washingtons im Nahen Osten? Das führt doch gerade der ganzen Welt vor, wie man einer allein übriggebliebenen Supermacht auf der Nase herumtanzt. Ob nun der Herr und Meister schon dermassen angeschlagen ist, dass er die Kontrolle über diesen seinen Kolonial-Saftladen völlig verloren hat, oder ob bloss dem zionistisch verhexten Macbeth Netanjahu vor blanker Macht-Besoffenheit jeder Sinn für Verhältnis- und Gesetzmässigkeiten abhanden gekommen ist – es macht keinen Unterschied: Spross Bibi und seine herrenmenschlichen Mitregenten mischen dort unten, vom supermächtigen Washington einen Atlantik und ein Mittelmeer entfernt, hemmungslos den ganzen Mittleren Osten auf und machen ihn zu einem einzigen riesigen Pulverfass, das jederzeit explodieren kann, ob das den USA nun passt oder nicht. Und selbst wenn Washington mit seinem „Holla, my son! jetzt aber mal einen Gang runtergeschaltet!“ ernst machen und ihm die laufenden Mordgerät-Lieferungen ausknipsen wollte: Bibi hätte immer noch den Finger am roten Knöpfchen seines (schätzungsweise rund 200-sprengköpfigen) Atombomben-Arsenals – ja: so mächtig haben die riesenhaften USA, assistiert von den europäischen Zwergen France (für die Machart) und BRD (für die Finanzen), den levantinischen Zwerg gemacht, dass er ihnen nun auf seinen eigenen Nuklear-Flöten den Marsch blasen kann, der jede Gegenmacht, auch ihre, abschreckt. Womöglich würde ja Washington vorerst sogar am liebsten keine Waffen mehr an Israel liefern, sieht sich aber insgeheim so unter Druck gesetzt – durch ein klitzekleines, unkonventionelles Knöpfchen in Tel Aviv –, dass es die „konventionelle“ Quelle doch lieber weiter sprudeln lässt...

Und warum also, verehrter Herr Michal, sollte sich ein ukrainischer Zauberlehrling den Wahn, den die israelischen bereits hemmungslos ausleben, untertänigst verkneifen? Nur weil er bloss über „konventionelle“ Spielsachen verfügt und (noch) nicht über nukleare? Zumal das für die Ukraine genau genommen ja nicht einmal stimmt, denn wie fast alle Staaten der Welt verfügt auch sie längst über big sticks, mit denen Kiew für sein Kriegsglück in derselben Weise wedeln kann wie Tel Aviv: auf Kriegsgebiet ist schliesslich jedes AKW eine Atombombe mit dem Potential, die stolzen Besitzer jederzeit gezielt zu radioaktiv verseuchten Kollateralschäden zu befördern. (...und die Schuld dafür schieben sich die Kontrahenten dann wieder gegenseitig in die Schuhe – die PR, damit ist zu rechnen, stirbt zuletzt...)
Oder anders: Wer als selbstverständlich voraussetzt, eine „Supermacht wie die USA“ sei per definitionem hellsichtig und mächtig genug, um propagandistisch vollends Verblendete bis ins Letzte kontrollieren und allenfalls verlässlich zwingen zu können, Differenzierungen wie die zwischen „konventioneller“ und atomarer Bewaffnung ins Kalkül zu ziehen und ihre blindwütige Selbstüberschätzung entsprechend zu justieren, und das ausgerechnet in Zeiten wie den angebrochenen, in denen es die Supermächtigen selbst dahin gebracht haben, dass nach solchen Nuancen nirgends kein Hahn mehr kräht – geht der nicht im Grunde genau den trügerischen, lebensbedrohlichen Allmachtsfantasien eben dieser Supermächtigen auf den Leim?

Ich würde ja gerne über solche Fantasmen lachen – wenn das Ganze nicht einfach zum Heulen wäre.
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