Verlotterter Tagesschau-Journalismus

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Maren
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Verlotterter Tagesschau-Journalismus

Beitrag von Maren »

Betreff: Programmbeschwerde: "Ja-Sager" in Griechenlands Regierung

Norddeutscher Rundfunk
Vorsitzende des Rundfunkrates
Rothenbaumchaussee 132
20149 Hamburg


Programmbeschwerde: "Verlotterter Tagesschau-Journalismus"


Sehr geehrte Frau Vorsitzende,

am 18.07.2015 12:17 Uhr verkündete die "Gniffksche Tagesschau.de" in gewohnter Diktion:

"Neue Minister in Griechenland vereidigt. Tsipras schart "Ja"-Sager um sich."

Diese Meldungsüberschrift ist keine sachorientierte Nachricht, sondern eine Spekulation und eine Beleidigung, die mit bräsiger deutscher Überheblichkeit regierungstreuer Hofschranzen-Mentalität zu erklären ist. Man stelle sich vor, Schäuble tritt wegen seiner Differenzen mit Merkel zurück und sein Nachfolger wird von ARD-Aktuell sofort nach Amtsantritt mit "Ja-Sager" begrüßt. Das ist mir bei den Erfahrungen mit "ARD-Aktuell" genauso unvorstellbar, wie die Formulierung einer vertretbaren Meldung, vermutlich würden wir als Zuschauer mit einem unkritischen "Mikrofon-vor-den-Mund-halten- Szenario" beglückt bzw. belästigt werden.

Im "Handelsblatt", das sehr häufig kritisch über die Griechenland-Politik berichtet, heisst es zum angesprochenen Sachverhalt:"Tsipras hat zahlreiche Kritiker seiner Regierung durch enge Vertraute ersetzt. Doch auch die Neuen stehen dem EU-Abkommen skeptisch gegenüber." Warum gelingt "ARD-Aktuell" kein vergleichbarer journalistischer Ausdrucksstil?

Bezogen auf die NDR-Programm-Richtlinien ist die Griechenland- Meldungsüberschrift faktisch falsch und ein Beispiel für unfairen Journalismus. Außerdem ist sie ein hässlicher Verstoß gegen die im NDR-Staatsvertrag vorgesehene Verpflichtung zur Völkerverständigung.

Das ungewöhnliche Maß an sprachlicher und intellektueller Verlotterung ist allerdings kein neuer Vorwurf:

Hinweisen möchte ich auf die "Rationalgalerie" mit einem lesenswerten Betrag des ehemaligen Tagesschau-Redakteurs Volker Bräutigam, der eine Anmoderation von Caren Miosga konsequent als sprachliches Desaster entlarvte:

„Wolfgang Schäuble will im kommenden Jahr tatsächlich einen schuldenfreien Haushalt präsentieren und verteidigte diesen heute in der Haushaltsdebatte im Bundestag.“

In diesem einen Satz deckte Volker Bräutigam gleich mehrere sprachliche Fehler bzw. Schlampereien der Frontfrau auf. Lesen Sie es der Nachhilfe wegen nach.

Weist man Dr. Gniffke auf die Mängel hin, dann kommt sinngemäß als Textbaustein zurück:

"Wir sind ständig um Qualitätsverbesserung bemüht", so als handele es sich bei der Moderations-Fähigkeit um ein Quark-Produkt von Lidl.

Erinnert sei der Rundfunkrat auch an die kürzlich geäußerte Kritik des früheren ARD-Fernsehjournalisten Christoph Maria Fröhder: Neben sprachlicher „Verlotterung" konstatierte er Qualitätsmängel. So würden „scheinbar relevante Fakten hintereinandergefügt, anstatt sie zu hinterfragen". Fröhder warf besonders "Tagesschau (ARD)" und "Tagesthemen" ein unzureichendes journalistisches Umfeld vor: „Strukturagenten" in der Administration würden guten Journalismus „ersticken".

Er wiederholte altbekannte Kritikpunkte: „Es geht da meistens nicht um Journalismus oder Qualität, es geht bloß um Macht“. In einem Interwiew mit der Frankfurter Rundschau stellte er 2011 dar, dass neben mangelnder finanzieller Ausstattung, Manipulation, embedding, fehlender professioneller Ausbildung und Betreuung sowie selbstthematisierender Boulevardisierung die politische Haltung und berufliche Einstellung vieler Journalisten problematisch sei: Bei den öffentlich-rechtlichen Sendern bestünden die Redaktionen aus "politisch handverlesenen Journalisten", die hintergründige Berichte für gefährlich und leichtere Berichte für sympathischer hielten, "weil sie keinen Ärger machen". Hinzu komme die "Entpolitisierung des Nachwuchses".

Fröhders Kritik ist berechtigt.

Sie macht auch die über dreißigjährige Historie der Abwärtsspirale des öffentlich-rechtlichen Rundfunks deutlich:

Unter der Regie des Papas der heutigen Verteidigungsministerin "Röschen" von der Leyen, Ernst Albrecht, begann 1980 nach der Kündigung des NDR-Staatsvertrages die Kastration des öffentlich-rechtlichen Rundfunks: "Die Niedersächsische CDU-Landesregierung wird Schritte unternehmen, um mehrere jetzt beim NDR angestellte, politisch linksorientierte Journalisten von ihren gegenwärtigen Positionen in andere Abteilungen zu versetzen, wo sie keinen Schaden mehr anrichten können", so z.B. der CDU-Medienexperte Hans Feindt im Januar 1980.

Mit den CDU-Erfüllungsgehilfen im NDR – unter Führung des kürzlich verstorbenen Intendanten Friedrich-Wilhelm Räuker - gelang dieser Auftrag in beachtlichem Umfang.

Was dann noch an Qualität des aktuellen Programms blieb, beseitigte man mit dem SPD- Intendanten Jobst Plog und dem derzeitigen ARD-Programmdirektor Volker Herres durch bewusste Anpassung und strukturelle tiefgreifende systemische Zäsuren im NDR. In einer Veröffentlichung (1991) gaben beide - sicherlich unbeabsichtigt - einen Einblick in die Gründe:

"Die Prozesse (des NDR wegen der Brokdorf- und der Gewerkschaftsberichterstattung, damals heftig von der CDU öffentlich kritisiert) mussten geführt werden, wenn die Leitung eines großen Hauses mit liberaler Tradition nicht kapitulieren wollte…aber waren es nicht Pyrrhussiege? Die neuen Linien sind nicht durch Prozesse, sondern politisch gezogen worden…Insoweit…kann es lohnender sein, vertretbare Konsense im Vorfeld von sich abzeichnenden Auseinandersetzungen zu suchen – auch in Zukunft.“

Umfassende Programm-Privatisierungen und Personalabbau forcierten und erleichterten betriebsintern die " Konsense" zur politischen Anpassung. Das im NDR - latent "widerständige" - noch vorhandene festangestellte Programm-Personal dünnte Plog sukzessive aus und ersetzte es mit projekt- bzw. zeitvertragsgebundenen Journalisten, ideologisch verbrämt mit dem Hinweis auf die Realisierung einer nebulösen "Programmvielfalt". Das teuflische Gift der arbeitsvertraglichen Flexibilsierung hat aber vor allem den zentralen Effekt, dass neu beschäftigte Journalisten wegen der ungewissen längerfristigen Beschäftigungsmöglichkeiten im Sender hohem persönlichen Anpassungsdruck ausgesetzt sind, der Kritik, Solidarität und Emanzipation behindert oder faktisch ausschliesst.

Die ursprünglichen Intentionen des öffentlich-rechtlichen Rundfunks werden damit ins Gegenteil verkehrt: Durch gute soziale Absicherungen hatten die Gründer des Rundfunks sicherstellen wollen, dass Journalisten angstfrei und unabhängig ihrer Arbeit nachgehen können. Das Ergebnis ihrer Nachfolger sehen wir heute, Fröhder hat es beschrieben: Ein entpolisierter, angepasster und auf persönliche Interessen orientierter Journalismus.

Da Sie als Rundfunkräte natürlich wieder alles toll an der Tagesschau finden werden, meine hoffentlich versöhnende Quizfrage: Wo sind mehr Ja-Sager: Im NDR-Rundfunkrat oder in der griechischen Regierung?


Mit freundlichen Grüßen

F. Klinkhammer
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Maren
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Re: Verlotterter Tagesschau-Journalismus

Beitrag von Maren »

Anwort vom Chefredakteur Kai Gniffke und die postwendende Antwort des Beschwerdeführers.
Ja-sager_Stellungnahme_Gniffke v. 20.8.15.pdf
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Sehr geehrter Herr Marmor,

mit der Antwort des Herrn Dr. Gniffke vom 20.8.2015 bin ich nicht einverstanden und bitte deshalb um eine Erörterung im Rundfunkrat.

Die Wortwahl "Ja-Sager" für die ausgewechselten Minister der griechischen Regierung als journalistisch korrekt zu bewerten, ist ein zusätzlicher Beleg für die fehlende Kritikfähigkeit von ARD-Aktuell und eine Bestätigung des Vorwurfes, auch der öffentlich-rechtliche Rundfunk kenne die Grenze zwischen fairer Berichterstattung und Propaganda nicht.

Unhöflich, aber bezeichnend finde ich, dass Sie auf die weiteren Ausführungen zur sprachlichen Verlotterung und die realen und historischen Ursachen dieser Entwicklung nicht eingehen.

Die Wahrheit tut halt weh.

Weil es inhaltlich zum ARD-Griechenland-Bashing passt, möchte Ihnen in diesem Zusammenhang einen Beitrag aus dem Magazin "Konkret" (9/15) nicht vorenthalten :

"Propaganda
Was es mit dem sogenannten Qualitätsjournalismus, der Wert darauf legt, nicht mit den anderen Lumpen in einen Sack gesteckt zu werden, auf sich hat, lässt sich an einem einzigen Wort darstellen: Geldgeber. So heißen seit Beginn des jüngsten Wirtschaftskriegs zwischen "Tagesschau" und "FAZ" in dem weiten Feld dieses sehr engen Raums die Leute, die dem griechischen Staat und den Banken Kredite geben.

Das Kreditgeschäft ist der Verleih von Geld zu dessen Mehrung durch Zinsen; wer das Geld verleiht ist der Gläubiger, wer es leiht ist der Schuldner. Hat je einer von Ihnen, liebe Leserin, lieber Leser, die Bank oder Sparkasse, die Ihnen einen Kredit "gewährt" hat und für die Überziehung Ihres Kontos zwölf Prozent Zinsen berechnet, als "mein Geldgeber" angesprochen? Weil sie ja nicht der Gläubiger ist, sondern der Nachkomme des Bischofs Martin von Tours, der seinen Mantel – in diesem Fall: seine Dividende – mit Ihnen teilt? Denn Geben (von Geld oder Arbeit) ist seliger denn nehmen.

Herzlich, Ihre Propagandakompanie, Abteilung Qualitätsjournalismus. Bei Rückfragen wenden Sie sich bitte an unsere Frau Miosga."

Als Wirtschaftsexperte, lieber Herr Marmor, müsste da doch immerhin auch bei Ihnen was klingeln, oder?

Schönen Gruß an Ihre "Ja-Sager im Rundfunkrat"

Ihr

F. Klinkhammer
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Re: Verlotterter Tagesschau-Journalismus

Beitrag von Maren »

Antwort vom Rundfunkrat:
2015 12 11 RR Griechenland-Ja-Sager_geschwärzt.pdf
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